ACM-Mitteilungen vom 12. August 2018
- Liebe Leserin, lieber Leser,
- Sind Ärzte verpflichtet, eine Therapie mit Cannabis durchzuführen?
- Presseschau: Krankenkassenkosten für Medizinalcannabis explodieren (Ärzteblatt)
- Presseschau: Erwartungen zu hoch: Präsident der Deutschen Schmerzliga referierte über "Cannabis als Medizin" (Badische Zeitung)
- Presseschau: Kasse muss Cannabis-Arzneimittel zahlen (Apotheke AdHoc)
- Presseschau: Warum Cannabis ein fragwürdiges Medikament ist (BR24)
- Einige Pressemeldungen und Informationen der vergangenen Tage
Liebe Leserin, lieber Leser,
es gibt wieder einige Anträge an die Bundesopiumstelle auf den Eigenanbau von Cannabis, da selbst Erlaubnisinhaber mit Verweigerungen einer Kostenübernahme durch ihre Krankenkasse rechnen müssen. Viele andere finden keinen Arzt, der sie behandelt.
Die Sprecher des Selbsthilfenetzwerks Cannabis Medizin (SCM) haben zu den gleichlautenden Aussagen in den Ablehnungen des Eigenanbaus von Cannabis für den eigenen medizinischen Bedarf durch die Bundesopiumstelle bei den Ärztekammern nachgehakt.
In den Ablehnungen der Bundesopiumstelle auf Eigenanbau heißt es: „Zudem machen wir darauf aufmerksam, dass die Zulassung als Vertragsarzt nach § 95 Absatz 3 Satz1 SGB V für Ärztinnen und Ärzte das Recht, aber auch die Pflicht begründen dürfte, an der kassenärztlichen Versorgung teilzunehmen. Ärztinnen und Ärzte, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, dürften eine Behandlung nicht ohne weiteres verweigern können. Vielmehr dürfen Vertragsärzte Patientinnen und Patienten nur aus triftigen Gründen ablehnen. Wird eine Behandlung aus nicht triftigen Gründen verweigert, kann die Ärztekammer aufgerufen sein.“
Wir dokumentieren in dieser Ausgabe auch die Antwort der Bundesärztekammer.
Wie fatal sich in konkreten Fällen die Vorstellung, man könne eine Therapie mit Cannabisblüten auf eine vergleichsweise geringere Dronabinol-Dosis umstellen, auswirken kann, muss gerade einer meiner Patienten erfahren, der eine Haftstrafe verbüßen muss. Er leidet an einer posttraumatische Belastungsstörung, was einen für jeden belastenden Gefängnisaufenthalt belastender macht als für psychisch Gesunde.
Die letzte Dosierungsanleitung in meiner Praxis sah die Einnahme von 1-1,5 g Cannabisblüten mit einem Dronabinol-Gehalt von 22 % mittels Vaporizer vor. Dies entspricht einer Tagesdosis von Dronabinol/THC von 220-330 mg. Nach wenig fruchtbaren Gesprächen mit der zuständigen Ärztin der Haftanstalt hatte ich an die Anstaltsleitung appelliert: „Es ist wichtig, diese Behandlung im Gefängnis fortzusetzen. Dies geschieht jedoch gegenwärtig nicht und stellt für Herrn S. vor dem Hintergrund seiner psychiatrischen Erkrankungen eine erhebliche psychische Belastung dar. Nach eigenen Angaben bekommt er in der JVA gegenwärtig 2 ml einer 2,5-prozentigen Dronabinol-Lösung, entsprechend einer Dosis von 50 mg THC/Dronabinol. Damit ist er unterdosiert. Ich würde es begrüßen, wenn Herr S. in Ihrer Einrichtung medizinisch ausreichend versorgt wird.“ Ich bekam als Antwort, dass er ausreichend medizinisch betreut werde, was der Wahrnehmung des Patienten und seiner verzweifelten Mutter leider nicht entspricht.
Kürzlich fand die erste Online-Schulung für das geplante ACM-Patiententelefon statt. In den nächsten ACM-Mitteilungen vom 25. August soll der Startschuss fallen.
Viel Spaß beim Lesen!
Franjo Grotenhermen
Sind Ärzte verpflichtet, eine Therapie mit Cannabis durchzuführen?
Bei der Versorgung der Bevölkerung mit Cannabis-Medikamenten hakt es. Wir sehen viel Licht, aber auch viel Schatten. Aus Patientensicht ist es oft frustrierend, von ihren Ärzten abgewiesen zu werden, aus mangelnder medizinischer Kenntnis, aufgrund des bürokratischen Aufwandes oder wegen der Angst vor einem Regress.
Schreiben des SCM an die Ärztekammern
Sehr geehrte Damen und Herren.
In unserer Eigenschaft als Sprecher des SCM, Selbsthilfenetzwerk-Cannabis-Medizin, einem Zusammenschluss von Patienten innerhalb der Arbeitsgemeinschaft-Cannabis-Medizin, möchten wir Sie ersuchen zu folgendem Problem Stellung zu beziehen:
Sehr viele Patienten mit schweren Erkrankungen, auch solche Patienten die vor dem neuen Gesetz, das die Verschreibungsfähigkeit und Kostenübernahme für Cannabis-Medikamente regelt, eine sogenannte Ausnahmeerlaubnis des BfArM - und überdies eine Kostenübernahme-Zusage ihrer jeweiligen Krankenkasse innehatten, finden bis dato keinen Arzt, der bereit wäre, Cannabis zu verschreiben.
Hierbei handelt es sich beileibe nicht um wenige oder bloß vereinzelte Mediziner-Entscheidungen sondern der Großteil aller Ärzte und medizinischen Zentren haben deutlich gemacht, grundsätzlich keinerlei Cannabis-Medikamente zu verordnen.
In diversen Antwortschreiben des BfArM an von diesem Umstand betroffene Patienten heißt es wörtlich:
„Zudem machen wir darauf aufmerksam, dass die Zulassung als Vertragsarzt nach § 95 Absatz 3 Satz 1 SGB V für Ärztinnen und Ärzte das Recht, aber auch die Pflicht begründen dürfte, an der kassenärztlichen Versorgung teilzunehmen. Ärztinnen und Ärzte, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, dürften eine Behandlung nicht ohne weiteres verweigern können. Vielmehr dürfen Vertragsärzte Patientinnen und Patienten nur aus triftigen Gründen ablehnen. Wird eine Behandlung aus nicht triftigen Gründen verweigert, kann die Ärztekammer aufgerufen sein.“
Wir bitten Sie freundlich mitzuteilen, ob diese Aussage des Bundesinstituts so korrekt ist und welche Handlungsoptionen betroffenen Patienten, die von Cannabinoiden gesundheitlich profitieren, zur Verfügung stehen, um ihr Recht auf Behandlung durchzusetzen.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Gebhardt, Axel Junker
Selbsthilfenetzwerk-Cannabis-Medizin
c/o ACM
Am Mildenweg 6
59602 Rüthen
Antwort der Bundesärztekammer
Sehr geehrte Frau Gebhardt, sehr geehrter Herr Junker,
herzlichen Dank für Ihre Mail vom 3. August d.J. Die darin von Ihnen vorgetragene Einschätzung, dass der "Großteil aller Ärzte und medizinischen Zentren deutlich gemacht" hätte, "grundsätzlich keinerlei Cannabis-Medikamente zu verordnen", können wir hingegen aus unserer Wahrnehmung nicht teilen.
Hinweisen möchten wir z.B. darauf, dass die Landesärztekammern seit Inkrafttreten der Gesetzesänderung im März 2017 vielfältige Fortbildungsangebote aufgebaut haben, um Ärztinnen und Ärzte für die Verordnung von Cannabis-Blüten und Arzneimitteln bei schwerwiegenden Erkrankungen zu qualifizieren. Allein für den Zeitraum von August bis Dezember 2018 sind im Fortbildungsportal der Bundesärztekammer über 10 cannabisbezogene Fortbildungs-Veranstaltungen der Landesärztekammern ausgewiesen. Weitere Fortbildungsangebote sind über die relevanten Fachgesellschaften verfügbar.
Darüber hinaus hat die Bundesärztekammer unmittelbar nach der Gesetzesänderung auf ihrer Homepage eine FAQ-Liste für Ärztinnen und Ärzte zu den neuen Verordnungsmöglichkeiten erstellt (https://www.bundesaerztekammer.de/aerzte/versorgung/ambulant/cannabis/) und am 27. November letzten Jahres eine Informationsveranstaltung für die Landesärztekammern zur Thematik durchgeführt.
Des weiteren hat das Deutschen Ärzteblatt, das wöchentlich alle Ärztinnen und Ärzte in Deutschland erreicht, mehrfach Artikel zu dem Thema publiziert
(siehe u.a.: Häuser W et al.: Cannabinoide in der Schmerz- und Palliativmedizin - Eine Übersicht systematischer Reviews und prospektiver Beobachtungsstudien. In: Dtsch Arztebl Int 2017; 114(38): 627-34; DOI: 10.3238/arztebl.2017.0627;
Müller-Vahl, Kirsten; Grotenhermen, Franjo: Medizinisches Cannabis: Die wichtigsten Änderungen. In: Dtsch Arztebl 2017; 114(8): A-352 / B-306 / C-300).
Zudem erarbeitet die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) derzeit eine Praxisleitlinie "Cannabis in der Schmerztherapie". Bislang fehlt es jedoch für den deutschsprachigen Raum an wissenschaftlich abgesicherten Behandlungsleitlinien zum medizinischen Einsatz von Cannabis.
Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass das Gesetz die Verordnung nur für schwerwiegende Erkrankungen vorsieht und die Datenlage zur Wirksamkeit von Cannabis-Arzneimitteln für die meisten Indikationsgebiete weiterhin sehr begrenzt ist. Es ist daher zu vermuten, dass diese Aspekte mit in die ärztliche Therapieentscheidung einfließen. Offensichtlich entsprechen die öffentlichen Erwartungen zur Wirksamkeit von Cannabis-Blüten und Arzneimitteln oftmals nicht dem tatsächlichem, in Studien abgebildeten Nutzen, wodurch sich ein Teil der von Ihnen zitierten Beschwerden erklären mag.
Seitens verordnender Ärzte wird uns hingegen wiederholt über den umfänglichen Begründungsaufwand gegenüber den Krankenkassen und deren Ablehnungspraxis berichtet, woraus wir durchaus ein großes Bemühen der Ärzteschaft ableiten, den neuen Verordnungsmöglichkeiten gerecht zu werden.
In diesem Sinne verbleiben wir
mit freundlichen Grüßen
i. A. Dr. rer. medic. XY
Bereichsleiter im Dezernat 1
- Versorgung und Bevölkerungsmedizin -
Bundesärztekammer
Herbert-Lewin-Platz 1
10623 Berlin
Fon +49 30 400 456 - 413
Fax +49 30 400 456 - 378
E-Mail :
www.bundesaerztekammer.de
Presseschau: Krankenkassenkosten für Medizinalcannabis explodieren (Ärzteblatt)
Das Deutsche Ärzteblatt liefert einen Überblick über die Kostenentwicklung bei der Therapie mit cannabisbasierten Medikamenten. Der Begriff Kostenexplosion ist angesichts der aktuellen doch noch recht überschaubaren Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für entsprechende Therapien sicherlich übertrieben, denn wir sind bei weitem noch nicht bei dem monatlichen 2- und später 3-stelligen Millionenbetrag an Ausgaben angelangt, mit dem in den kommenden Jahren zu rechnen ist.
Krankenkassenkosten für Medizinalcannabis explodieren
Die Kosten für Medizinalcannabis sind stark gestiegen: Während die gesetzliche Kran¬ken¬ver-siche¬rung (GKV) im Juni 2017 noch 2,31 Millionen EURo für cannabishaltige Fertigarzneimittel, -Zubereitungen und -Blüten ausgegeben hat, lag der Bruttoumsatz für Cannabisausgaben allein im Monat April 2018 bereits bei etwa 5,36 Millionen EURo. Das teilte der GKV-Spitzenverband auf Anfrage des Deutschen Ärzteblattes mit.
Den mit Abstand größten Kostensprung haben unverarbeitete Cannabisblüten gemacht. Der Bruttoumsatz hat sich zwischen Juni 2017 und April 2018 bereits mehr als verfünffacht – von fast 412.000 EURo pro Monat auf 2,33 Millionen EURo. Für cannabishaltige Zubereitungen geben die Krankenkassen inzwischen doppelt so viel aus, wie noch im vergangenen Jahr (Juni 2017: 839.495 EURo versus April 2018: 1.707.387 EURo). Im Vergleich dazu war der Bruttoumsatz für Canemes-Kapseln und Sativex niedriger (45.958 EURo bzw. 1.258.403 EURo im April 2018).
Ministerium will sich zur Kostenexplosion noch nicht äußern
Dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) sind die Zahlen zu Umsätzen und Verord¬nungen cannabinoidhaltiger Fertigarzneimittel und Zubereitungen bekannt. Die Zahl an positiv beschiedenen Anträgen auf Kostenübernahme durch die Krankenkassen zeige, dass sich das Verfahren bewährt habe und das Gesetz wirke, teilt das BMG dem DÄ mit. Zur Kostenexplosion will sich das BMG derzeit nicht äußern. Man wolle die Entwicklung weiter beobachten und abwarten, bis sich die Umsatzzahlen stabilisiert hätten, hieß es.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde noch mit weit niedrigeren Ausgaben gerechnet: „Bei einem gemittelten Preis pro Gramm von ungefähr 18 EURo ergeben sich, wenn man die Zahlen des Jahres 2015 zugrunde legt, Einsparungen für Bürgerinnen und Bürger in Höhe von 1.692.000 EURo.“
Den GKV-Spitzenverband überrascht die Kostenexplosion nicht. Bereits 2016 wies der Kassenverband in einer Stellungnahme darauf hin, dass es insbesondere im ersten Jahr der Gültigkeit des Gesetzes zu einer Ausweitung der Versorgung mit Cannabisarz¬neimittel kommen würde. In diesem Zeitraum würden Patienten zudem noch nicht durch den Anbau unter Kontrolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) versorgt.
„Für den Fall, dass in diesem Zeitraum der gesteigerte Bedarf allein durch Importe gedeckt würde, könnte die erhöhte Nachfrage zu Versorgungsproblemen und unkalkulierbar steigenden Preisen führen“, schlussfolgerte der GKV-Spitzenverband vor zwei Jahren. Schon damals kritisierten die Krankenkassen, dass der Gesetzgeber die Abgabe von Cannabis nicht auf bestimmte Krankheiten oder Krankheitsbilder beschränkt hat.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat bereits auf die aktuellen Entwicklungen reagiert und die ausgeschriebenen Produktionsmengen erhöht. Statt 6,6 Tonnen sollen 10,4 Tonnen in einem Vierjahreszeitraum auf deutschen Äckern angebaut werden.
Wie viele Tonnen pro Jahr schon jetzt von Apotheken auf Kassenkosten an Patienten ausgehändigt werden, haben jedoch weder GKV-Spitzenverband, noch die Bundes-vereinigung Deutscher Apotheker¬verbände (ABDA) oder das BfARM auf Anfrage beantwortet.
Dass die Zahl der Cannabispatienten weiter steigen könnte, zeigt auch eine neuerliche Bewertung von Studiendaten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Es bescheinigte Cannabis sativa bei Spastik infolge von Multipler Sklerose einen Zusatznutzen. Bisher werden vor allem Schwerzpatienten mit Medizinalcannabis versorgt.
Presseschau: Erwartungen zu hoch: Präsident der Deutschen Schmerzliga referierte über "Cannabis als Medizin" (Badische Zeitung)
Der Präsident der Deutschen Schmerzliga, Privatdozent Dr. Michael Überall, überraschte bei einem Vortrag mit einigen bemerkenswerten Aussagen. Er erinnerte auch an den juristischen Anstoß für das aktuelle Gesetz, das in früheren Jahren auch schon mal als Cannabis-Eigenanbau-Verhinderungsgesetz bezeichnet wurde. Er bestätigt die Erfahrung vieler Patienten, dass viele Ärzte zögerlich seien, ein Rezept auszustellen. Überraschend ist die Aussage des Schmerztherapeuten, dass er oft nicht wisse, ob Cannabis nur beneble oder wirklich Schmerzen lindere. Viele Schmerzpatienten, die Cannabis erfolgreich therapeutisch nutzen, sind bekanntlich berufstätig und hellwach. Und eines bleibt am Ende offen: Ist er selbst ein Freak oder ein Holländer, hat er keine Erfahrung, kokettiert er mit dieser Aussage oder hat der Journalist ihn nur falsch zitiert?
Erwartungen zu hoch: Präsident der Deutschen Schmerzliga referierte über "Cannabis als Medizin"
Der Präsident der Deutschen Schmerzliga, Michael Überall, hat in Offenburg vor einem interessierten Publikum zum Thema "Cannabis als Medizin" referiert. Er äußerte sich kritisch zu der Gesetzesänderung, der Umsetzung sowie zu den medizinischen Aspekten von Cannabis. Gegen die Verwendung argumentierte er nicht.
"Lasst es uns probieren. Was kann passieren, außer, dass wir etwas bekifft sind und es uns stimmungsmäßig besser geht", sagte Überall im Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung. Angesichts der vielen Antragsablehnungen der Krankenkassen – 50 Prozent – riet er, die Anträge in Urlaubszeiten zu stellen, da die Kassen in dieser Zeit unterbesetzt seien. Werde ein Antrag nicht innerhalb eines gewissen Zeitraums beschieden, gelte er als bewilligt.
Dass die Kassen so viele Anträge ablehnen – jeder Fehler im Antrag werde negativ gewertet – sei ärgerlich. "Die Kassen setzen sich über das Gesetz hinweg." Zwar sei nicht jede Antragstellung auf Cannabis als Medizin begründet und nicht jede Ablehnung unbegründet. Aufgrund der großen Zahl der Ablehnungsentscheidungen bestehe aber der Verdacht, "dass es bei der Antragsbearbeitung seitens der Krankenkassen nicht um bedürfnisorientierte Individualentscheidungen im Sinne des Gesetzes gehe, sondern um die Umsetzung eines Ablehnungsvorbehaltes."
Überall, Medizinischer Direktor des Instituts für Neurowissenschaften, Algesiologie und Pädiatrie in Nürnberg, wies auf die Entstehung des Gesetzes hin. "Es wurde nicht gemacht, um den Zugang zu Cannabis zu erleichtern." Das Gesetz sei entstanden, um den Eigenanbau zu verhindern. Dieser stand "im Widerspruch zur Weltanschauung der Regierung." Noch nie sei ein Gesetz schneller im Kabinett verabschiedet worden.
Im April 2016 sprach das Bundesverwaltungsgericht ein Urteil zum Eigenanbau. Ein Patient mit Multipler Sklerose erhielt höchstrichterlich und letztinstanzlich die Erlaubnis zum Eigenanbau von Cannabis zu therapeutischen Zwecken. Die beklagte Behörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wurde verpflichtet, "dem Kläger zu erlauben, Cannabis in seiner Wohnung anzubauen, zu ernten und zum medizinischen Zweck seiner Behandlung zu verwenden", so das Urteil. Infolge dieses Urteils stellten mehr als 100 Personen entsprechende Anträge zum Anbau von Cannabis. Das Bundesgesundheitsministerium reagierte einen Monat später mit dem Gesetzentwurf. Im März 2017 trat das Gesetz in Kraft. Nach Einschätzung von Überall wurden dabei "alle Prinzipien über den Haufen geworfen, alles woran wir glaubten." Wirksamkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit, Studien. Man wisse nicht, wie Cannabis wirke, was es im Körper mache. "Dennoch ist es auf dem Markt. Das ist einmalig. Das müsste uns zu denken geben", so Überall.
Auch Ärzte hätten keine Erfahrung damit – "es sei denn, er ist ein Freak oder aus Holland". Viele Ärzte sähen es kritisch und zögerten, ein Rezept auszustellen. Er, so Überall, sei auch kritisch. Einen wissenschaftlichen Beweis gebe es nicht. "Und die Erwartungen sind übersteigert." Die Wirkung sei zwar nach einem Zug da. "Aber ist das Medizin oder die Droge, die benebelt, abschaltet, vom Schmerz distanziert?" Bei einer neuen Regierung, so der Präsident der Deutschen Schmerzliga, werde Cannabis eh legalisiert. "Dann ist es egal."
Presseschau: Kasse muss Cannabis-Arzneimittel zahlen (Apotheke AdHoc)
Viele Ärzte, die mit cannabisbasierten Medikamenten arbeiten, ärgern sich darüber, dass aus ärztlicher Sicht auch in eindeutigen Fällen Krankenkassen häufig eine Kostenübernahme ablehnen, wie im konkreten Fall eines Schmerzpatienten und ehemaligen Erlaubnisinhabers. Die Krankenkassen wiederholen häufig, dass nur unbegründete oder unvollständige Anträge abgelehnt werden. Das ist keineswegs der Fall, wie dieses Beispiel zeigt. Immerhin hat das Sozialgericht in diesem Fall dem Patienten recht gegeben.
Kasse muss Cannabis-Arzneimittel zahlen
Im aktuellen Fall geht es um einen erwachsenen Patienten, der eine chronische Schmerzstörung, ferner eine chronische Lumboischialgie, ADHS, rezidivierende depressive Episoden, chronische Gastritis mit Ulcus veritriculi und Refluxösophagitis sowie ein Reizdarmsyndrom hat. Er hatte schon mehrere stationäre Schmerztherapien hinter sich, ein positiver Erfolg war nicht eingetreten. Nach seiner Aussage ist er dringend auf Cannabis angewiesen, da die bisherigen Schmerzmittel bei ihm keine Wirkung zeigten oder wegen sehr starker Nebenwirkungen abgesetzt werden mussten. Seine behandelnden Ärzte bescheinigten ihm, dass eine Therapie mit Medizinalhanf sinnvoll sei. Bisher habe er sich das Medikament mit seiner Ausnahmegenehmigung auf eigene Kosten verordnen lassen. 12.500 bis 15.000 EURo zahlte er bereits aus eigener Tasche, doch weiterhin könne er dafür nicht mehr aufkommen. Auch Schulden habe er deshalb schon gemacht.
Der Patient hatte bereits im Januar 2016 bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für Cannabisblüten beantragt. Auch nach Widerspruch wies die Kasse die Forderungen im November 2016 endgültig zurück, mit der Begründung, dass eine Abrechnung einer nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethode grundsätzlich ausgeschlossen sei. Eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Anwendung von Cannabisblüten bei bestimmten Erkrankungen liege nicht vor. Zu diesem Zeitpunkt war Cannabis zu medizinischen Zwecken noch nicht legalisiert worden.
Der Schmerzpatient hatte daraufhin eine Klage beim Sozialgericht (SG) Augsburg eingereicht. Die Richter gaben ihm zunächst nicht recht. Ende Februar 2017 stellte er dann einen Neuantrag bei der Krankenkasse, der erneut abgelehnt wurde. Auch der Widerspruch wurde im Januar 2018 zurückgewiesen. Grund: Es seien keine ärztlichen Angaben zu anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen vorgelegt worden. Nach Erlass der neuen gesetzlichen Regelung zu Cannabis hat er im Juli 2017 dann erneut einen Antrag auf Kostenübernahme gestellt, über den noch nicht entschieden worden sei.
Ende November 2017 forderte er einen einstweiligen Rechtsschutz: „Er hat die Verpflichtung der Antragsgegnerin [Krankenkasse, Anm. d. Red.] begehrt, dass diese die Kosten für Cannabis flos als notwendiges Arzneimittel bei bestehender Schmerzkrankheit übernehme”, schreiben die Richter. Einen Monat später forderte der Patient eine Abänderung des Antrags. Die Kostenübernahme sollte für alle verfügbaren Sorten eines Cannabispräparates ausgedehnt werden. Hintergrund war der zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Lieferengpass einzelner Blütensorten.
Die Kasse war unter anderem der Meinung, dass der Antrag vom Juli 2017 kein Neuantrag gewesen sei, sondern lediglich ein Arztfragebogen. Außerdem seien die Voraussetzungen nach § 31 Abs. 6 SGB V nicht erfüllt, insbesondere sei nicht belegt, dass zugelassene Alternativpräparate nicht zur Verfügung stünden. „Angesichts der Fülle der möglichen Schmerzmedikamente auf dem Markt und der demgegenüber geringen Verordnungen sei nicht nachvollziehbar, dass ausschließlich Medizinal-Cannabisblüten zur Schmerzbekämpfung wirksam seien.“
Aus pharmakologischer Sicht sei nicht zu erwarten, dass Cannabisblüten in Bezug auf das Schmerzgeschehen angesichts der potenziellen Schwankungen im Gehalt der relevanten Inhaltsstoffe besser wirkten. Standardisierte Rezepturarzneimittel beziehungsweise Fertigpräparate wie Sativex seien eindeutig zu bevorzugen. Doch der Kläger hat darauf hingewiesen, dass die Kasse früher auch die Kostenübernahme für Dronabinol und Sativex abgelehnt habe; er habe deshalb Privatrezepte und auch die Ausnahmegenehmigung vom BfArM erhalten. Außerdem war Sativex nach einem ärztlichen Attest bei ihm unwirksam; er habe das Präparat nicht vertragen.
Die Richter und auch der MDK erkannten an, dass eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des SGB V vorliegt. Es sei zu berücksichtigen, dass dem Patienten eine Ausnahmegenehmigung erteilt worden sei. Diese Erlaubnis habe jedoch mit Inkrafttreten der neuen gesetzlichen Regelung zurückgesandt werden müssen. Der MDK berief sich zudem auf die Befunde, die zeigten, dass Cannabinoide bereits 2015 eingesetzt worden waren, „so dass eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf nachvollzogen werden könne”.
Das SG hat mit Beschluss vom Januar 2018 die Kasse vorläufig verpflichtet, dem Patienten ab 29. November 2017 bis 30. April 2018 ein verfügbares Cannabispräparat als Arzneimittel zur Verfügung zu stellen beziehungsweise in diesem Zeitraum bereits entstandene Kosten zu erstatten. Im April hat der Kläger beim SG Augsburg dann einen weiteren Antrag zur Kostenübernahme der Kosten für ein Cannabispräparat/Cannabisblüten, weiter über den 30. April 2018 hinaus, gestellt. Da nicht von einer Eilbedürftigkeit ausgegangen wurde, wurde auf das Gutachten des Orthopäden vom Mai 2018 abgewartet. Der Sachverständige ist dabei davon ausgegangen, dass – auf orthopädischem Fachgebiet – die allgemein anerkannten und dem medizinischen Standard entsprechenden Behandlungen angewandt beziehungsweise ausprobiert wurden, der Patient diese jedoch nicht vertragen habe oder sie starke Nebenwirkungen gezeigt hätten. Nach Aktenlage habe sich eine positive Wirkung der Cannabismedikation gezeigt.
Nach eigenen Angabe des Klägers seien in der Zeit bis „Ende Februar 2018“ jedoch keine Kosten angefallen, da wegen eines Lieferengpasses keine Cannabisblüten bezogen wurden und auf eine Opiumtinktur zurückgegriffen wurde. Die Kasse hat danach beantragt, den Beschluss aufzuheben. Das LSG Bayern sah die Beschwerde begründet und entschied dann in zweiter Instanz, dass die Kasse für den Zeitraum vom 1. März bis 30. April 2018 ein verfügbares Cannabispräparat als Arzneimittel zur Verfügung stellen muss beziehungsweise in diesem Zeitraum bereits entstandene Kosten, mit Ausnahme des Zuzahlungsbetrages, zu erstatten hat.
Presseschau: Warum Cannabis ein fragwürdiges Medikament ist (BR24)
In den USA wird die Verwendung von Cannabis als eine Möglichkeit zur Bewältigung der Opioid-Krise mit tausenden von Toten betrachtet. Die Verwendung von Opiaten geht in US-Staaten mit einem legalen Zugang zu Cannabis zurück. Das ist auch intuitiv nachvollziehbar: Ein Schmerzpatient, der gut von Cannabis profitiert, benötigt keine oder weniger Opiate. Wenn ein bekannter Schmerzmediziner mit Verweis auf diese US-amerikanische Opioid-Krise nun auf die Idee kommt, dass Cannabis ein zusätzliches Problem zu Opiaten verursachen könnte, so ist das eine eher abenteuerliche Behauptung auf der Basis einer doch recht simplifizierten Gefahrenarithmetik.
Warum Cannabis ein fragwürdiges Medikament ist
Der Schmerzpatient Michael Autrum leidet seit Jahren unter ständigen Schmerzen. Er hat mehrere Herzoperationen und viele Eingriffe am Rücken hinter sich, war zwischenzeitlich querschnittgelähmt, wollte sich das Leben nehmen.
Mit Cannabis lässt sich Schmerz leichter ertragen
"Und jetzt: Ich lebe wieder", sagt Autrum heute. Und das dank einer Pflanze, die als Droge gilt: Cannabis. Die Schmerzen sind zwar noch da, mit Cannabisblüten als Medikament kann Michael Autrum sie aber akzeptieren.
Weil Michael Autrum kein Einzelfall ist, hat der Gesetzgeber 2017 nach einer von 80 000 Menschen unterzeichneten Petition, Cannabisblüten, sowie Extrakte und Öle aus der Pflanze als verschreibungsfähiges Medikament zugelassen. Die Kosten der Therapien können seitdem von den gesetzlichen Kassen ersetzt werden.
Mediziner: Wirkung von Cannabis wird überschätzt
Ärzte wie Dominik Irnich begrüßen den Schritt grundsätzlich. Als Leiter der Schmerzambulanz am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München warnt er aber davor, die Wirkung von Cannabis zu überschätzen. Es helfe nicht jedem Patienten und chronischer Schmerz lasse sich auch nicht einfach abstellen.
Dazu kommt: Von den vielen Studien, über den Einsatz von Cannabis in der Medizin genügen laut Irnich die wenigsten wissenschaftlichen Standards. Und die Studien, die fundiert sind, lassen erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit von Cannabis als Schmerzmedikament aufkommen.
Schmerzmediziner: Erfolge werden schöngeredet
Damit widerspricht Irnich Berichten, Erfolge wie der von Michael Autrum, könnten die Regel werden, wenn alle Ärzte endlich ihre Vorbehalte gegen Cannabis ablegen würden. "Hier werden die Ergebnisse ein bisschen schöngeredet, weil eine ganze Armada von Herstellern schon bereitsteht. Also da geht es um Milliarden." Dominik Irnich, Schmerzmediziner LMU München
Cannabis gilt für einem Teil der Pharma- und Wellnesswirtschaft weltweit als großer Hoffnungsträger.
Milliardengeschäft: Liberalisierung heizt Nachfrage an
Schon mit der derzeitigen Liberalisierung des Betäubungsmittelgesetzes hat sich die Nachfrage nach medizinischen Hanfprodukten in Deutschland vervielfacht. Der Markt allein für verschreibungspflichtige Hanf-Produkte wird auf drei Milliarden EURo und mehr geschätzt.
Hersteller erhoffen sich aber auch einen Boom für Produkte, die frei verkauft werden können. Die Palette reicht von Wellnessartikeln über Tee und Nahrungsergänzungsmitteln bis hin zu Gartenartikeln für den heimischen Anbau.
Cannabis könnte Suchtprobleme verschärfen
Angesichts der Suchtprobleme mit herkömmlichen Schmerzmitteln können Ärzte wie Dr. Irnich über den Boom nur den Kopf schütteln. "Wir haben mittlerweile in den USA über 30.000 Tote im Jahr, die nicht aus besonderem Milieu kommen, das sind normale Menschen, die starke Opiate nehmen."
Ähnliche Zustände befürchtet der Schmerzmediziner in Zukunft auch in Deutschland. Kein Wunder, dass ihm nicht wohl ist angesichts dem derart mächtigen Lobbyismus für mehr Freizügigkeit bei Cannabis.
Einige Pressemeldungen und Informationen der vergangenen Tage
„Hope for dope“ Tausende demonstrieren für die Legalisierung von Cannabis in Berlin (Berliner Zeitung)
Teufelskraut oder Wunderblüte? - Cannabis als Medizin (Mitteldeutscher Rundfunk)
Jetzt kommen die Cannabis-Canadier (BILD)
Nun doch Cannabis-Pilotprojekte in Schweizer Apotheken (Deutsche Apotheker Zeitung)
Youporn-Macher investiert in Kölner Cannabis-Startup (Business Insider)
Cannabis im DM-Onlineshop (Apotheke AdHoc)
Veranstaltungen 2020
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IACM-Konferenz 2022
Die 12. IACM-Konferenz zu Cannabinoiden in der Medizin wird am 20. und 21. Oktober 2022 zusammen mit der Schweizerischen SSCM in Basel/Schweiz stattfinden.
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